02.06. – Ein Tag voller Kontraste: Die vierte Etappe – 12 km von Bodenaya nach Tineo

Um sieben Uhr weckt uns sanfte Musik. Gestern Abend hatten wir Pilger diese Weckzeit gemeinsam beschlossen. Ein letztes gemeinsames Frühstück. Dann heißt es Abschied nehmen. Die Gastgeber verabschieden jeden mit einer herzlichen Umarmung. Und schon bin ich wieder unterwegs auf dem Camino.

Heute liegen nur 12 Kilometer vor mir. Etwa 250 Höhenmeter sind zu bewältigen. Im Vergleich zum gestrigen Tag wirkt die Strecke entspannt. Eine willkommene Abwechslung!

Auf dem Weg nach Tineo

Im kleinen Ort El Pedregal besuche ich eine Kirche. Ich hole mir einen neuen Stempel für meinen Pilgerausweis. Nach wenigen Metern passiert es: Jemand ruft mir laut hinterher. Hatte ich etwas in der Kirche vergessen? Ich prüfe: Wanderstöcke, Rucksack, Kamera, Handy – alles da. Dann fällt mir auf, dass meine Wanderstöcke anders aussehen. Vor der Kirche hatte ich sie abgestellt. Beim Herausgehen griff ich versehentlich nach den falschen. Ich kehre um. Der andere Wanderer erwartet mich schon. Wir tauschen die Stöcke aus. Ein kurzes Lachen, ein „Buen Camino“ und weiter geht’s. Eine amüsante Episode!

Auf dem Weg nach Tineo

Der Weg führt mich auf einer schmalen Landstraße ohne Bürgersteig aus dem Ort. Ich gehe vorschriftsmäßig links, um den Gegenverkehr im Blick zu haben. Die Autos fahren schnell, halten aber meist genügend Abstand. Plötzlich nähert sich von hinten ein großer Lastwagen. Er beansprucht die gesamte Fahrspur. Im selben Moment setzt ein PKW zum Überholen an. Er zieht auf meine Seite. Obwohl die Geschwindigkeitsbegrenzung noch gilt, rast der PKW heran. Er kommt von hinten. Ich bemerke ihn erst im letzten Moment. Er streift mich beinahe! Ein Schreck fährt mir in die Glieder.

Auf dem weg nach Tineo

Der Schreck sitzt tief. Ich stelle fest, dass ich in der Aufregung die Abzweigung auf einen Feldweg verpasst habe. Ich muss 500 Meter auf der gefährlichen Straße zurücklaufen. Ein unnötiges Risiko!

Der Beinahe-Unfall beschäftigt mich den ganzen restlichen Weg. Die Landschaft ist wunderschön, mit sanften Steigungen. Dennoch fühle ich mich erschöpfter als gestern nach dem anstrengenden Aufstieg von Salas nach Bodenaya. Der Vorfall hat mir die Zerbrechlichkeit des Lebens vor Augen geführt. Ich denke über meine eigene Verletzlichkeit, über Leben und Tod nach. Vielleicht ist es der „Geist des Camino“, der mir diese Lektion erteilt.

Tineo

Ich erreiche Tineo. Meine Herberge befindet sich im Keller eines Vier-Sterne-Hotels. Ein Kontrast zu den bisherigen Unterkünften! Eine noble, fast schon feudale Atmosphäre. 54 Schlafplätze in drei Sälen, unterteilt in Kabinen mit je vier Betten. Die Wände reichen nicht bis zur Decke, aber die Abtrennungen sorgen für etwas Privatsphäre. Alles wirkt steril sauber, fast wie im Krankenhaus. Tageslicht fehlt komplett. Neonröhren erhellen die Räume. Kostenlose Einweg-Bettlaken gibt es. Baumwoll-Bettlaken kosten extra. Im Hotel speisen gut betuchte Gäste. Pilger bekommen ihr Essen in einem Nebenraum.

Die Pilgerherberge im Keller des Vier-Sterne-Hotels Palacio de Merás

Nach der Bezahlung an der Rezeption erhalte ich nur meine Bettnummer und eine Wegbeschreibung in den Keller. Keine Herzlichkeit, keine Gemeinschaft. Der Preis von 16 Euro für einen Schlafplatz ist im Vergleich zu den vorherigen Herbergen hoch. Der scheinbare Komfort und die Sauberkeit rechtfertigen den Preis im ersten Moment. Doch außer dem Bett ist nichts inklusive. Ich gehe in den Ort, um etwas zu essen. Auf dem Weg zur Herberge habe ich bereits einige bekannte Pilger getroffen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen in einer Bar.

In einer gemütlichen Bar in der Nähe der Herberge bekomme ich ein günstiges Pilgermenü. Leider treffe ich niemanden, den ich kenne. Ich esse alleine.

Zurück in der Herberge vermisse ich die Gemeinschaft der letzten Tage. Hier kümmert sich nach der Anmeldung niemand mehr um die Pilger. Das wirkt sich auf die Atmosphäre aus. Die Mitpilger verhalten sich rücksichtslos. Als ich meine Wäsche aufhängen will, stelle ich fest, dass einige wenige fast die gesamte Leine beanspruchen. Für die anderen bleibt kaum Platz.

Wie üblich wird um 22 Uhr das Licht ausgeschaltet. Doch Ruhe kehrt nicht ein. Vor den Kabinen herrscht Unruhe. Türen knallen, laute Gespräche hallen durch den Raum. Bis Mitternacht! Um sieben Uhr wird das Licht wieder eingeschaltet. Um halb acht will ich wieder unterwegs sein. Eine unruhige Nacht!