09.06. – Höhen und Tiefen, Regen und Begegnungen : Die zehnte Etappe – 22 km von A Fonsagrada nach Baleira
Du glaubst, den höchsten Punkt erreicht zu haben? Du irrst dich! Der Camino schreibt seine eigenen Geschichten.



Nach einem ausgiebigen Frühstück starte ich gegen halb acht. Der erste Teil der Strecke führt steil bergauf, aber nur moderate 100 Höhenmeter. Ich erreiche die Ruinen der alten Pilgerherberge von Montouto. Hier, auf über 1000 Metern Höhe, bietet sich ein fantastischer Panoramablick über die Berge. Nicht nur Asturien, auch Galicien beeindruckt mit seiner Bergwelt. Eine Augenweide!

Wer hochsteigt, muss auch wieder absteigen. Kaum oben, geht es steil bergab. Auf den nächsten vier Kilometern verliere ich über 300 Höhenmeter. Im kleinen Ort Paradavella lädt eine Bar zur Rast ein. Zehn Kilometer liegen hinter mir, zwölf vor mir. Ich bestelle einen Kaffee. Das Laufen hat mich gepackt. Ein Blick auf die Wetter-App verheißt fünf Stunden trockenes Wetter. Genug Zeit für die restliche Strecke. Eine trügerische Hoffnung!
Noch während ich meinen Kaffee trinke, verdunkelt sich der Himmel dramatisch. Hoffentlich ziehen die Wolken weiter! Ich breche eilig auf.

Kurz darauf beginnt ein steiler Anstieg. Es regnet. Ich versuche, den Anstieg so schnell wie möglich zu bewältigen. Ich überhole drei junge, sportliche Frauen und eine Gruppe von Männern Mitte 40. Ich halte das Tempo eine Weile, aber es ist anstrengend. Der Regen verstärkt sich. Der Weg verwandelt sich in eine rutschige Matschpiste. Eine Herausforderung!
Vor mir sehe ich einen Pilger, der sich mit seltsamen Bewegungen den Berg hochquält. Er weicht dem Schlamm aus und kommt nur langsam voran. Beim Überholen erkenne ich einen älteren Mann mit asiatischem Aussehen. Ich erinnere mich an den japanischen Pilger von vor ein paar Tagen. Dieser hier wirkt jedoch deutlich älter.
Nach der forcierten Bergauf-Passage brauche ich selbst eine Pause. Ich drossle mein Tempo. Die Frauen und die Männergruppe überholen mich wieder. Kurz darauf sehe ich sie am Wegrand rasten. Ich beschließe, es ihnen gleichzutun.
500 Meter weiter lasse ich mich auf einer Steinmauer nieder. Ich hole meine Verpflegung heraus. Wieder werde ich überholt: erst von den Frauen, dann von den Männern. Kurz darauf nähert sich auch der ältere Mann. Ich spreche ihn auf Englisch an und frage nach seinem Alter. Er versteht mich nicht. Er gibt mir sein Handy und deutet an, ich solle meine Frage hineinsprechen. Er liest die Übersetzung, spricht etwas hinein und gibt mir das Handy zurück. Er ist 79 Jahre alt! Beeindruckend! Er fragt nach meiner Herkunft. Ich antworte. Er nennt mir sein Land: Korea. Dann bittet er mich um ein gemeinsames Selfie. Gerne! Ich habe großen Respekt vor diesem Mann, der in seinem Alter diese beschwerliche Reise unternimmt. Auch ich bitte ihn um ein Selfie. Eine schöne Begegnung!



Kurz nach ihm setze ich meinen Weg fort.
Vor dem Ende des Anstiegs hole ich die anderen Pilger wieder ein. Alle sind sich einig: Dieser Aufstieg war hart. Eine gemeinsame Erfahrung!

Die Freude über den geschafften Anstieg ist nur von kurzer Dauer. Nach einigen flachen Metern geht es wieder bergauf. Der Regen setzt erneut ein. Zuerst leicht, dann immer stärker. Ich hole mein Regencape heraus und versuche, es überzuziehen. Keine Chance! Es will nicht über den Rucksack passen. Ich lasse den Regen auf mich prasseln. Er wird immer heftiger. Ein weiterer vergeblicher Versuch mit dem Regencape. Vorbeiziehende Pilger helfen mir schließlich. Eine willkommene Unterstützung!
Kurz darauf hört der Regen auf. Die Sonne kommt heraus. Unter dem Regencape fange ich an zu schwitzen. Ich ziehe es aus, befestige es am Rucksack und gehe weiter. Eine wechselhafte Wetterlage!



Die Herberge San Mateo in O Cadavo, Baleira
Nun ist der steile Anstieg endgültig geschafft. Die folgenden Auf- und Abstiege sind moderat. Bald erreiche ich die Herberge „San Mateo“. Eine gute, geräumige, gepflegte und moderne Herberge am Ortsrand. Sie bietet 40 Plätze in vier Schlafsälen mit Raumtrennung, eine Küche, einen einfachen Hof und sogar Schuhtrockner. Nebenan im Gasthaus Eligio gibt es Menüs, Frühstück und Zimmer. Ein komfortabler Ort!
Am Abend lerne ich ein sympathisches Paar aus Neuseeland kennen. Sie haben den Camino schon vor Jahren gemacht. Wir unterhalten uns angeregt. Eine junge Frau aus England sitzt erschöpft auf dem Boden. Ihre Füße sind voller Blasen, ihr Knöchel schmerzt. Ihre Schuhe und Socken wirken wenig geeignet für diese Wanderung. In diesem Moment realisiere ich, wie gut meine eigenen Schuhe und Merino-Socken mich bisher geschützt haben. Sie haben mich über Felsen und Geröll getragen, ohne Blessuren zu hinterlassen. Eine Erkenntnis der Dankbarkeit!